Nachtsicht II

für Orchester
sowie optionalem Sprecher und/oder Live-Elektronik

(2011)
15 min

Picc., 2 Fl., 2 Ob., Englhr., 2 Klar., Bklar., 2 Fg., Kfg.,
4 Hr., 3 Trp., 3 Pos., Tb., Pk., 2 Schlgz., Streicher

Text: Frank Schablewski
Edition Juliane Klein

GEMA-Nr. 12498369 (Version für Orchester)
GEMA-Nr. 12498368 (Version für Orchester und Sprecher)

Aufführungen

  • UA, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Johannes Kalizke (Leitung ), Theaterhaus Stuttgart, Eclat Festival, 08.2.2014
  • UA & Voraufführung der Kurzfassung, Jugendsinfonieorchester der Tonhalle Düsseldorf, Ernst von Marschall (Leitung ), Tonhalle Düsseldorf, 22./26.2.2012

Programmtext

Das Rauschen des nächtlichen, urbanen Verkehrs, vereinzelte Schritte und leise Fragmente von Gesprächen nächtlicher Spaziergänger, das Rattern der Bahnen über die Brücke und das Sausen der Autos über und unter dieser, dies alles, erlebt, gehört und aufgezeichnet in Ton und Text auf und unter der Oberkasseler Brücke in Düsseldorf bildet die Grundlage für „Nachtsicht“. Zusammen mit dem Dichter Frank Schablewski wurden Orte der urbanen Nacht in Düsseldorf ausgesucht, welche zu Stücken mit Text und Musik inspirierten. Die Oberkasseler Brücke war und ist besonders beeindruckend: auf der Brücke ist man mitten in der Stadt, aber von ihr getrennt, herausgehoben und kann diese aus einer anderen Perspektive erleben, klanglich und optisch. Der Verkehr und die Fußgänger laufen in klaren Bahnen, sind schon von weitem vernehmbar und lassen die Brücke unter den Füßen spürbar vibrieren. Geräusche von den Ufern sind zu hören, im stillen dunklen Fluss spiegeln sich die Lichter der Ufer und Brückenbeleuchtung. Unter der Brücke, an der Tonhalle, ist der Verkehr dagegen polyphon auf verschiedensten Ebenen zu hören: Aus dem Tunnel kommend, um einen herumfahrend, anfahrend, stoppend, gesteuert von Ampeln, unerwartet aus Straßen kommend und über einem ratternd, sausend. In der Nacht wird dieses Getöse durchscheinender, die Rhythmen langsamer, die Ereignisse in loser Verbindung. Die Dunkelheit schärft das Gehör, die Geräusche werden teils durch Lichter begleitet, einzelne bunte Lichter zieren die dunkeln Schemen der Stadt.

Auf der Suche nach einem transparenten Schwarz in der Musik – die urbane zeitgenössische Nacht repräsentierend im Unterschied zur düsteren, heimeligen oder spukhaftem romantischen Nacht - fand Gahn in Gemälden der koreanischen Malerin Jina Parks eine Entsprechung. So entstand „Nachtsicht“ als Version für Elektronik zu Parks Ölbilder und später die Version für Live-Elektronik, Sprecher und Schlagzeug, bzw. Klavier. Die nächtlichen Klänge wurden nun gemischt mit Aufnahmen von Pinselgeräuschen - abgenommen mit einem hinter die Leinwand geklebtem Kontaktmikrofon - , weiteren Arbeitsgeräuschen des Maleratelier und die bei offenem Fenster hereinkommenden Geräusche der Stadt Paris. Durch die Arbeit an dem Stück während eines Aufenthaltes als Gastkünstler in Seoul, Südkorea, kamen nächtliche Aufnahmen auf der über den Han-Fluss führende, mehr als doppelt so große Dongjak-Brücke hinzu. Ergänzt wurden diese Klänge um die Klänge der meterlangen, raumprägenden Heizkörperröhren des Ateliers, eines gezupften, geschlagenen und mit Pinsel gestrichenen E-Basses, sowie aus virtuellen physikalischen Modellen errechnete Klängen von gestrichenen und geschlagenen gigantischen virtuellen Leinwänden, meterlangen E-Bass-Saiten und stählernen Brückenteilen, sowie in den Aufführungsversionen mit Schlagzeug oder Klavier um die Instrumentalklänge.

Das ruhige Schreiten in der Nacht, sowie der Rhythmus des Auftragens der Farbe auf der Leinwand, gegeben durch das entspannte Atmen, die Schwingfrequenz des Körpers, die Länge und Richtung der Pinselstriche und die Viskosität der Ölfarbe - mit kleineren Pausen zum Aufnehmen neuer Farbe und größeren Pausen zum Mischen der Farbe und Betrachten der Striche, des Bildes - steuern den Rhythmus der Klänge.

Sprachästhetisch, inhaltlich, klanglich und rhythmisch eröffnet sich durch den Text Frank Schablewskis eine weitere Perspektive. Aufgezeichnet wurden die Klänge während der gemeinsamen Recherche der urbanen Nacht nicht nur in den Tonaufnahmen sondern auch in Sprachnotizen Schablewskis, aus denen sich gleichzeitig mit der Musikkomposition der Text entwickelte. Die Klangkomposition der Vokale und Konsonanten bewegt sich auf subtile Weise in den Klangwelten der urbanen Nacht und der elektronischen Komposition. Der Rhythmus der vereinzelten Worte und kleinen Wortgruppen lässt manchmal Richtungen erahnen und einzelne lose Gruppen von gleichmäßigen Pulsen aufscheinen.

Diese Klänge und die daraus entstandene Musik als Ausgangsbasis für ein Orchesterstück zu nehmen, war eine Idee für ein Abenteuer hin zu neuen musikalischen Räumen. Neue Klänge, Kombinationen und Bewegungen durch das Orchester wurden in einem Workshop mit dem Jugendsinfonieorchester der Tonhalle Düsseldorf entwickelt und bildeten das Ausgangsmaterial für das Stück, ein Auftragswerk der Tonhalle Düsseldorf. Es entstanden viele Klänge mit einem hohen Rausch und Geräuschanteil. Diese sonst eher im Hintergrund mitschwingenden Klanganteile sind normalerweise nicht bewusst hörbar, aber auch dafür verantwortlich, den Tönen ihre charakteristische Färbung zu geben. Jedes Instrument hat seine eigene Schönheit, auch in der „Nachtseite“ seiner Klänge. Der Körper, quasi die Umrisse der Instrumente werden hörbar gemacht. Zwischen diesem Rauschen und Rattern scheinen immer wieder volle Farben durch. Tiefe oder hohe liegende Töne, kurze Klangakkorde und mehr oder weniger große Klangkomplexe stehen in loser Verbindung nebeneinander und können als extrem langsame polyphone Melodien gehört werden.